Patanjali sagt im Yogasutra 2.36, dass man, wenn man in einem hohen Maße ehrlich und authentisch ist, und gleichzeitig niemanden verletzt, stets weiß, was zu tun ist und fehlerfrei handeln wird. Vielversprechende Aussicht, nicht wahr? Vermutlich wird niemand in seinem Leben absolut authentisch und ehrlich sein, genauso wenig wie man nicht absolut gewaltfrei sein wird- jedenfalls nicht als normalsterblicher Mensch mit einem Alltag in der heutigen Zeit. Aber sind es nicht die kleinen Dinge, die unsere Welt ein Stückchen besser machen? Wenn man diese beiden yogischen Regeln von ahmisa und satya für sich und andere achtsam befolgt, werden sich wohlmöglich auch das eigene Verhalten und die eigenen Gedanken immer weiter dahingehend verändern, ohne dass man das Gefühl hat, man müsse sich nun verbiegen. Vielleicht stellt man fest, dass es sich einfach gut anfühlt, wenn Gedanken, Gefühle, Worte und Taten sinnvoll übereinstimmen und man dadurch immer ruhiger und gelassener werden kann.
satya vs. ahimsa
Wenn man sich im Sinne von satya, der Wahrhaftigkeit, verhalten will, dann steht man in manch einer Situation vor der Schwierigkeit, dass die Ehrlichkeit durchaus verletzend für sein Gegenüber sein kann. Was soll man nun tun, wenn die Freundin einem erzählt, dass sie so schrecklich verliebt in ihren neuen Freund ist und man ihn vorgestern mit einer anderen Frau händchenhaltend im Park gesehen hat? Satya sollte niemals in einen Konflikt mit ahimsa, dem Nichtverletzen, stehen. Wenn man jemanden mit der Wahrheit zu sehr verletzen würde, dann sollte man besser schweigen. Ahimsa hat stets Vorrang vor satya. Mit satya ist auch gemeint, weniger zu reden – ganz nach dem Sprichwort „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Rumi, ein persischer Dichter des Mittelalters, hat einmal gesagt: „Bevor du sprichst, lasse deine Worte durch drei Tore schreiten: Sind sie wahr? Sind sie notwendig? Sind sie freundlich?“ Vielleicht ist es hilfreich, seine eigenen, inneren Dialoge und Gedanken auch ab und zu durch diese drei Tore schreiten zu lassen. Wahrscheinlich scheitern viele von ihnen schon an der ersten Frage.
satya – die Wahrhaftigkeit
satya – die Wahrhaftigkeit und die Frage „Wann sage ich nicht das, was ich denke und handele nicht so, wie ich mich fühle?“ Um dieses zweite yama aus dem Yogasutra 2.36 zu erläutern, nutze ich die Worte von Joe Biden aus seiner Amtsantrittsrede: „Es gibt Wahrheit und es gibt Lügen. Jeder von uns … ist hier in der Verantwortung, die Wahrheit zu verteidigen und die Lügen zu besiegen.“ Wir alle lügen mehrmals am Tag. Sei es, dass wir uns etwas schön oder schlecht reden, unsere Fehler nicht wahrhaben wollen, etwas verharmlosen oder uns selbst überschätzen. Manche Lügen entstehen bewusst, wie, wenn wir jemandem sagen, dass wir uns über das schöne Geschenk freuen, obwohl wir es grauenvoll finden. Andere Lügen entstehen in unserem Unterbewusstsein. Das sind dann oft die sogenannten falschen Glaubenssätze. Wir denken, dass wir so, wie wir in „echt“ wären, nicht „richtig“ sind, dass wir anders, besser, perfekter sein sollten – mit dem Trugschluss, dass wir dann endlich dazugehören, anerkannt und geliebt werden. Sich seiner wahren Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse klar zu werden, authentisch zu sein und zu handeln, ohne sich selbst oder jemandem anderen etwas vorzumachen, ist nicht immer einfach. Beobachte dich doch mal achtsam. Wann sagst du A, wenn du eigentlich B meinst? Wann machst du Versprechungen, wo du schon von vornherein weißt, dass du sie nicht einhalten wirst? Welche Veränderung in deinem Leben möchtest du gerne umsetzen, findest aber immer wieder eine Ausrede es nicht zu tun? Wann sagt dir dein Körper, was jetzt gut für dich wäre, aber du beachtest seine Signale nicht und machst genau das Gegenteil? Der erste achtsame Schritt ist, dass du dir klar machst, dass du die Tatsachen nicht wahrhaben willst, dass du jetzt gerade anders handelst, als du denkst oder fühlst. Als nächstes kannst du dich fragen, welches Bedürfnis dahintersteckt, dass du nicht ehrlich mit dir und anderen bist und wie du schließlich auf ehrliche Weise handeln könntest – wie du die Wahrheit verteidigen und die Lüge besiegen kannst? Wenn dir dies immer häufiger gelingt, kann sich satya, die Wahrhaftigkeit, in dir selbst entwickeln. #viniyoga_melle #satya #yogasutra #achtsamkeit #achtsam #wahrhaftigkeit #Wahrheit #yamas #luegen #gedanken #patanjali #achtsamkeitimalltag
śauca – die Reinheit
śauca – die Reinheit und die Frage „Und – mit wem duscht du so?“ Das erste niyama, welches ich vorstellen möchte ist śauca, was übersetzt so viel wie Reinigung/Reinheit bedeutet. Damit ist sowohl die körperliche (äußere) aber auch die geistige (innere) Hygiene gemeint. Zur äußeren Reinheit gehört die Körperpflege, ein sauberer, aufgräumter Platz zum Üben und eine gesunde (reine) Ernährung. Innere Hygiene findet auf der Ebene unserer Gedanken und Gefühle oder Glaubenssätze statt. Nehmen wir heute als erstes und wahrscheinlich einfachstes Beispiel die Körperhygiene. Da findet man unter dem Stichwort kriyas im Internet unzählige Videos über die yogischen Reinigungstechniken des Hatha Yoga. Wer sich dafür interessiert, sollte sich einen guten Lehrer suchen, der einem erklärt, was man zu beachten hat und was man besser lassen sollte. Mir persönlich reicht die körperliche Reinigung in Form von Duschen, Zähne putzen, Haare waschen und Tragen von sauberer Kleidung, um mich in diesem niyama wiederzufinden. Und damit komme ich zur heutigen Achtsamkeitsübung: Warst du heute schon duschen/baden? Oder hast du es vielleicht noch vor? Dann achte einmal bewusst darauf, welche Gedanken dir beim Duschen/Baden durch den Kopf gehen: Ich war heute morgen schon mit unserem Mittagessen, meinem Zahnarzt und der Yogapraxis von gestern unter der Dusche ?. Und dann probierst du es einmal anders: Versuch achtsam jede Kleinigkeit beim Duschen/Baden wahrzunehmen: Wie fühlt sich das Wasser auf der Haut an? Wo fühlt es sich gut an, wenn der Strahl mich trifft? Wie riecht das Shampoo oder die Seife? Wird mir kalt, wenn ich das Wasser zwischendurch abdrehe, um mich einzuseifen und wie warm und sauber fühlt sich danach das Abwaschen der Seife oder das Auswaschen der Haare an? Mach dir bewusst, wie sich der Körper anfühlt und pflege ihn ganz liebevoll, anstatt ihn automatisch zu waschen. Du kannst dich danach auch genauso achtsam abtrocknen und eincremen. Wichtig ist, dass die Gedanken jetzt nur bei dieser einen Sache bleiben und sich nicht mit Dingen der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigen. Dann hast du śauca sowohl äußerlich als auch innerlich geübt.?
śauca – innere Reinheit mit der Gedanken-Stenografie
Nachdem sich der letzte Beitrag mit der äußerlichen (körperlichen) Reinheit befasst hat, soll es nun um die innere (geistige) Reinheit gehen. Ungefähr 60.000 Gedanken gehen uns am Tag durch den Kopf – viele davon nehmen wir gar nicht bewusst wahr und was vielleicht viel wichtiger ist, die meisten Gedanken sind nicht gerade positiv. Gibt es eine Möglichkeit, Ordnung in das Gedankenchaos zu bringen? Mir hilft es manchmal, meine Gedanken aufzuschreiben, und zwar so, wie sie gerade daherkommen: eine Gedanken-Stenografie. Dann setze ich mich mit einem Notizbuch, einem Heft oder ein paar einfachen Zetteln hin und schreibe 10 Minuten all das auf, was mir mein Geist so diktiert: (und wenn ich gerade an nichts denke, schreibe ich halt das auf). Wichtig dabei ist, in dieser Zeit in einem kontinuierlichen Schreibfluss zu schreiben, ohne über den Sinn, den Stil oder den Inhalt nachzudenken, im gleichen Gedanken-Tonfall, unzensiert, per Hand, so schnell wie möglich und ohne Pause. Es geht nicht darum, dass ich mir das alles hinterher noch einmal durchlesen will (Gott bewahre ?), ganz im Gegenteil, es geht darum, etwas loszuwerden, den Kopf frei zu schreiben und den Geist zu klären- anstatt im Gespräch mit einer anderen Person sofort einen klugen Ratschlag zu bekommen. Die ursprüngliche Idee stammt von der Künstlerin Julia Cameron und nennt sich „Morgenseiten“, welche noch etwas weiter geht, in dem man jeden Morgen drei DIN A4 Seiten mit seinen Gedanken vollschreibt. Mir hat diese Schreibmethode schon oft geholfen, wenn ich nachts nicht schlafen konnte oder auch in so unbeständigen Zeiten wie jetzt in der Corona-Pandemie.
Das Ergebnis des Übens von śauca
Patañjali macht keine Angaben dazu, wie man śauca, die Reinheit, nun ganz genau auf seinemYogaweg beachten soll. Das ist so schön an den Yamas und Niyamas – man kann selber entscheiden, wie bedeutend man diese einzelnen Gebote findet, wie intensiv man diese pflegen möchte und wie streng man die Regeln für sich selbst und andere aufstellen möchte. Der eine versteht unter Reinheit, dass die Wohnung einmal im Monat einigermaßen aufgeräumt ist, ein anderer macht große Unterschiede bei der Reinheit aufgrund seines Glaubens (z. B. beim Essen). Und doch befolgen alle diesen yogischen Grundsatz. Aber was hat man davon, wenn man sich im Sinne von śauca verhält? Patañjali gibt uns im Sutra 2.40 und 2.41 eine Antwort. Grob übersetzt steht dort, wenn wir śauca in unseren Alltag integrieren, werden wir nicht mehr von unseren falschen Wahrnehmungsmustern, den kleśa, beeinflusst. Wenn wir uns (unseren Körper) äußerlich reinigen, wird er gesund bleiben. Wenn wir unseren Geist rein halten, werden wir innerlich weniger angreifbar – wir machen uns weniger Sorgen, wir haben weniger Vorurteile und Erwartungen, wir sind gelassener, können uns besser konzentrieren oder schlafen. Patañjali ist die Reinheit im Bezug auf die Meditation noch wichtig (eines seiner Herzensangelegenheiten). Entwicklung von Reinheit hat die Folge, dass wir uns in der Meditation ohne Ablenkung auf ein Objekt ausrichten können. Wer sich auf dem Meditationskissen äußerlich unwohl fühlt und innerlich unruhig ist, sollte zuerst śauca auf seinem Yogaweg entwickeln. Wenn wir uns innerlich und äußerlich von unnötigem Ballast befreien, dann können wir mit allem, was ist, auf eine reine Weise in Beziehung treten – ganz bewusst und ohne voreingenommen zu sein.
ahiṃsā – die Gewaltlosigkeit
ahiṃsā – die Gewaltlosigkeit und die Frage: „Was und/oder wer bringt mich aus der Fassung?“ Das erste Yama ist ahiṃsā, was übersetzt Gewaltlosigkeit/Nichtverletzen bedeutet. Für viele Yogis ist es das wichtigste Gebot im Yoga (mit der Begründung, dass es als erstes im Yogasutra genannt wird). Patañjali erklärt jedoch nicht, was genau mit ahiṃsā gemeint ist. Hier kann wieder jeder Yogi für sich entscheiden, wie er diese Regel für sich (und für andere) verstehen möchte. Machen wir uns nichts vor: Die Welt braucht mehr ahiṃsā. Dafür müssen wir lediglich den Fernseher einschalten, die Zeitung aufschlagen oder vor die Türe treten. Meine Erfahrung mit diesem yama ist, dass sich ahiṃsā hervorragend dafür eignet, erst einmal achtsam wahrzunehmen, wo ich der Gewalt in meinem Alltag begegne (in Worten, Taten und Gedanken). Wie starte oder beende ich morgens/abends meinen Tag? Höre ich als erstes morgens die Nachrichten oder die Musik meines Lieblingssenders? Gehe ich abends mit einem guten Buch oder den Lästereien aus dem TV-Trash ins Bett? Wer oder was bringt mich regelmäßig aus der Fassung? Die schlecht gelaunte Kollegin, der schleichende Autofahrer im Auto vor mir, das ausverkaufte Toilettenpapier oder die Spinne an der Wand? Sich diesen Situationen bewusst zu werden, sie nicht zu bewerten, nicht zu kommentieren oder sich dafür zu verurteilen, ist schon der erste Schritt. Möglicherweise kann auch hier das Aufschreiben helfen, sich diese Momente bewusster zu machen und zu überlegen, wie man sein Verhalten im Sinne von ahiṃsā verändern möchte. ✌
ahiṃsā – Bewusstheit bewirkt Veränderung
Wenn man sich bewusst macht, in welchen Situationen man sich im Sinne von ahiṃsā, der Gewaltlosigkeit/dem Nichtverletzen verhalten kann, dann kann das in einem viele positive Gefühle auslösen. Im Yoga spricht man von den vier bhavanas, die vier Gefühle (Patañjali nennt es Bewusstseinszustände) für den Yogaweg: Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut (Yogasutra 1.33). Anstatt sich selbst (oder andere) für Fehler zu verurteilen, kann man sich öfters sagen, was man gut gemacht hat, sich selbst/den anderen loben oder-da ist es wieder, das Notizbuch ?- die positiven Eigenschaften aufschreiben, seine oder die des anderen („maitrī“=Liebe). Man kann eine oder mehrere Mahlzeit/en in der Woche ohne oder mit weniger Fleisch zu sich nehmen, nur noch Fleisch aus artgerechter Haltung kaufen („karuṇā“=Mitgefühl). Man kann sich über die Gehaltserhöhung des Kollegen mitfreuen, anstatt aufzuzählen, warum nicht er sondern man selbst diese verdient hätte („mudita“=Mitfreude). Und man kann anstatt auf die Regierung zu schimpfen, was alles nicht gut läuft, es geduldig annehmen, überlegen, was man selbst (für mich und andere) in dieser Situation tun kann („upekṣā“=Gleichmut, Geduld, Gelassenheit). Man muss im Sinne von ahiṃsā nicht gleich zu Mahatma Ghandi werden. Aber man kann diesbezüglich einen Rat von ihm befolgen: „Sei du selbst die Veränderung, die Du Dir für diese Welt wünschst“.
Das Ergebnis des Übens von ahiṃsā
Das Ergebnis des Übens von ahiṃsā (der Gewaltslosigkeit/ dem Nichtverletzen) erklärt Patañjali in Yogasutra 2.35. Frei übersetzt steht in diesem Vers „Wer sich in Worten, Taten und Gedanken gewaltlos sich selbst und anderen gegenüber verhält, der wird ein friedvolles Umfeld um sich bilden.“ Als Sprichwort würde mir dazu einfallen: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus.“ Probiere es doch einmal aus: Lächle jemanden freundlich an oder sage ihm etwas Nettes (wenn man das Lächeln mit Maske nicht so genau deuten kann) – wahrscheinlich wird der/diejenige auch zurücklächeln oder sich über die freundlichen Worte freuen. Und was, wenn einem selbst gerade nicht zum Lächeln zumute ist? Vielleicht ist hier wieder die Meditation ein Hilfsmittel: Als Mediationsobjekt, auf das du deinen Geist ausrichtest, dient dir das Bild von einem friedvollen Ort. Schau mal, was dir da einfällt (z.B. der Wald, das Meer, die Berge, eine Kirche oder auch etwas ganz anderes). Möglicherweise hast du ein Foto oder eine Postkarte von diesem Ort, dann kann dich die Betrachtung dabei unterstützen, deinen Geist darauf zu fokussieren. Wenn du kein Bild zur Hand hast, dann bau diesen Ort einfach nach und nach in deinen Gedanken auf. Sieh dich dort gedanklich um? Was siehst du? Was hörst du oder kannst du vielleicht auch etwas schmecken oder riechen? Wie ist das Wetter/ die Temperatur/ das Licht an diesem Ort? Bist du allein dort oder sind da noch andere Menschen/ Tiere? Kennst du sie oder sind sie zufällig dort? Was macht diesen Ort so friedvoll? Lass dich eine Zeit lang voll und ganz in Gedanken hier an deinem Ort des Friedens sein und nimm die Gefühle und die Empfindungen, die dabei entstehen achtsam wahr – ohne sie zu bewerten. Du kannst diese Meditation beliebig lang gestalten – wenn du sie beenden möchtest, dann verabschiede dich nach und nach von deinem friedlichen Ort. Vielleicht bedankst du dich dafür, dass es ihn gibt und dass du dort jederzeit gedanklich hinkommen und sein darfst. Jederzeit.